
Kein Problem bereitet den Deutschen die gleiche Sorge wie der Krieg in der Ukraine. In einem Interview mit ntv.de kritisierte Friedrich Merz den Kanzler für seine Kommunikation über die Politik der Ukraine. Er sagt aber auch, was Deutschland in den kommenden Monaten bevorsteht, unter welchen Umständen der Krieg enden könnte und warum er nicht mit einem Atomangriff der Russen rechnet.
ntv.de: Herr Merz, der russische Angriff auf die Ukraine dauert drei Jahre. Sie selbst sind im Frühjahr nach Kiew gefahren. Was ist Ihnen von dem Besuch in Erinnerung geblieben?
Friedrich Merz: Seitdem habe ich ein noch klareres Bild davon, worum es geht. Es hat mich nachhaltig beeindruckt, die Vororte Bucha und Irpin persönlich zu sehen, wo Russland versuchte, die Stadt Kiew aus dem Norden zu erobern und scheiterte – ich sah mit eigenen Augen bombardierte Häuser, bombardierte Krankenhäuser, bombardierte Schulen. Und die persönlichen Gespräche mit den Betroffenen, aber auch mit den Regierungsmitgliedern, mit dem Präsidenten, das hat mir sehr geholfen. All diese persönlichen Eindrücke sind durch nichts zu ersetzen. Und ich hatte auch ein Gefühl für die Größe dieses Landes, immerhin ist es nach Russland das zweitgrößte Land in Europa. Nach einem solchen Besuch hat man eine ganz andere Sicht auf diesen Krieg.
Bundeskanzler Olaf Scholz sagt noch, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren. Verstehen Sie, was der Bundeskanzler mit seiner Politik verfolgt?
Nein, ich verstehe die Ukraine-Politik von Olaf Scholz immer noch nicht. Es lässt auch vieles im Dunkeln. Ich glaube, dass unsere Unterstützung für die Ukraine darauf abzielen muss, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Im Sinne von: Es stellt die territoriale Integrität im Land uneingeschränkt wieder her.
Die Krim wollten wir als nächstes fragen…
Die Krim ist völkerrechtlich ein Teil der Ukraine. Vorerst ist es aber wichtig, dass sich Russland zumindest am 23. Februar 2022 über die Kontaktlinie zurückzieht. Dies ist ein Teil des ukrainischen Territoriums, das die russische Armee bereits bis zum offenen Krieg besetzt hat, auch mit Hilfe von Scheinreferenden wurde im Februar 2022 gesprengt. Dass sich die Ukraine hinter diese Linie nach Russland zurückzieht, ist eine Voraussetzung dafür, dass Gespräche im Land aufgenommen werden. Übrigens halte ich es für falsch zu sagen, dass ein Krieg gegen eine Atommacht militärisch nicht zu gewinnen ist. Die Sowjetunion hat in Afghanistan verloren, Russland hat in Syrien nicht gewonnen.
Haben Sie keine Angst, russische Atomwaffen einzusetzen?
Ich denke, dass die Russen selbst wissen, welches Risiko sie eingehen würden. Ich bin sicher, dass sowohl die Chinesen als auch die Amerikaner den Russen eine sehr klare Linie vorgegeben haben, die sie nicht überschreiten dürfen. Atomwaffen würden diese rote Linie überschreiten.
Niemand weiß, wie lange der Krieg dauern wird. Aber was steht Deutschland in den kommenden Monaten oder gar Jahren sonst noch bevor? Der Begriff Kriegsökonomie kursiert bereits…
Ich rate Ihnen – auch nach der Entscheidung von letzter Woche – von einer mündlichen Aktualisierung ab. Wir befinden uns nicht im Krieg und brauchen daher keine Kriegswirtschaft. Wir müssen sicherlich noch viel mehr für die Bundeswehr tun, Ausrüstung und Munition beschaffen und produzieren, aber das ist keine Kriegswirtschaft.
Und die zeitliche Perspektive?
Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass dieser Krieg noch länger dauern wird. Und nach diesem Krieg wird die Welt bis zum 24. Februar 2022 nicht wiederhergestellt sein. Wir werden wahrscheinlich Jahre, wenn nicht Jahrzehnte mit einem gefallenen Riesen, Russland, zu tun haben. Das ist nicht gut für Europa und auch nicht gut für die Welt. Aber das erste Ziel muss jetzt den Krieg beenden. Und das geht ohnehin nur mit militärischer Gewalt.
Mit seiner von ihm als zögerlich kritisierten Haltung entriss Olaf Scholz den Amerikanern neben der Lieferung des European Leopard auch den Abrams-Panzer. Am Ende wird die Ukraine mehr Kampfpanzer bekommen. Ist das nicht ein Erfolg?
Die Kanzlerin wurde in der gesamten Europäischen Union und auch in der Nato kritisiert. Offensichtlich gab es im Rahmen der Ramstein-Konferenz auch eine lautstarke Diskussion zwischen dem Chefkanzler und den führenden Beamten der Bundesregierung einerseits und dem US-Verteidigungsminister andererseits. Wenn ich das richtig interpretiere, hat Scholz nur auf die Amerikaner gewartet und nicht primär auf eine Zusammenarbeit mit Frankreich oder anderen europäischen Partnern gesetzt. Wie lange wollen wir das eigentlich noch machen und die Amerikaner noch um Hilfe bitten? Ich bin ein Transatlantiker durch und durch, aber die Europäische Union, dieser europäische Pfeiler der NATO, muss zuerst ihre eigene Antwort auf einen Konflikt auf ihrem Territorium geben.
Sie würden es also für richtig halten, wenn Scholz eine europäische Initiative organisiert, um Panzer zu verschenken?
Ja, wie es die Reihen der SPD vor einem halben Jahr richtig gesagt haben. Warum gab es keine gemeinsame europäische Initiative zur Lieferung dieser Tanks? Natürlich waren die USA in Absprache mit Washington nie dagegen! Die Europäer könnten sagen: “Wir haben eine vierstellige Zahl dieser Panzer in Europa und jetzt geben wir 200 bis 300 davon in einer gemeinsamen Anstrengung der 21 NATO-Staaten in der Europäischen Union ab.” Das würde Deutschland und Europa glaubwürdig machen. Das erweckt den Eindruck, als müssten wir noch auf das Ja der Amerikaner warten.
Scholz hat die Abrams-Panzer offenbar zur Voraussetzung für die Auslieferung des Leopard gemacht, damit Deutschland im Ernstfall nicht allein Putins Zorn zu spüren bekommt. Können Sie die Argumentation dahinter verstehen, dass Washington es vielleicht nicht ernst meint?
Ich kann sie verstehen, aber ich teile sie nicht. Erstens glaube ich nicht, dass es so ist. Zweitens glaube ich nicht, dass 31 Panzer aus den USA alles ändern werden. Wir werden immer vor der Frage stehen: Sind wir als Europäische Union geeint genug, um einen wesentlichen Beitrag zur Lösung eines Konflikts auf unserem Kontinent zu leisten?
Wenn eine nukleare Eskalation praktisch unmöglich ist und alle wichtigen Partner nur auf Berlin gewartet haben: Hat Olaf Scholz zu viel Angst? Oder fehlt ein Plan?
Die Kanzlerin ist schwer zu verstehen. Er ist der Öffentlichkeit noch viel Erklärung schuldig, genau wie letzte Woche. Als Union sind wir nicht die einzigen, die sich darüber beschweren. In der Politik muss man nicht jeden Tag sagen, was man denkt, das stimmt. Aber wenn es um ein so wichtiges Thema geht, muss man einen Weg finden, sowohl intern als auch extern zu kommunizieren, dass die Leute es verstehen.
Als Transatlantiker haben Sie sicher noch Verbindungen nach Washington. Welche Deutung ist richtig? Hat Herr Scholz die Amerikaner mit seiner Haltung verärgert oder hat er sich Respekt verschafft, indem er deutsche Interessen vertritt?
Was ich gehört habe, ist, dass zwischen Scholz und US-Präsident Joe Biden wohl ein sehr vertrauensvolles Verhältnis besteht. Aber ich höre auch, dass im Kongress Zweifel wachsen, ob die Europäer – nicht nur die Deutschen allein, die Europäer – tatsächlich stark und entschlossen genug sind, um auf Herausforderungen wie diesen Krieg zu reagieren. Sowohl Republikaner als auch Demokraten sind jetzt sehr zurückhaltend in ihrer vorbehaltlosen Unterstützung für die Europäer. Weil sie sehen, dass wir nicht tun, was wir tun sollten. Ein Beispiel dafür ist, dass der Verteidigungshaushalt der Bundesrepublik Deutschland von 2022 auf 2023 nicht steigen, sondern um 300 Millionen Euro sinken wird; dass wir das 2-Prozent-Ziel weiter als je zuvor überschritten haben; dass der Sonderfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro bis heute nicht einmal ansatzweise ausgegeben wurde. All das wird in Washington noch mehr erfasst als in Deutschland.
Volker Petersen und Sebastian Huld sprachen mit Friedrich Merz
Lesen Sie am Samstag auf ntv.de, wie Merz auf sein erstes Jahr als CDU-Vorsitzender zurückblickt und was er zur Debatte um Migration und Klimaschutz sagt.