
Wenn die Länder der Welt ab Anfang Dezember in Montreal die heiße Phase des Ringens um ein globales Naturschutzabkommen ankündigen, spielt Deutschland im Team Ambition. Gemeinsam mit der Europäischen Union und vielen anderen Ländern ist die Bundesregierung der von Frankreich und Costa Rica gegründeten „Coalition of the Highly Ambitious for Man and Nature“ (HAC) beigetreten. Ziel des informellen Staatenbündnisses ist es, die weitreichenden Beschlüsse für mehr globalen Naturschutz auf der Konferenz der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt COP 15 voranzutreiben – insbesondere den Schutz von 30 Prozent der Land- und Meeresoberfläche des Planeten.
Wenn sie jedoch auf die Bilanz im eigenen Land blicken, könnten die internationalen Vorreiter etwas mehr Ehrgeiz nicht schaden. Denn nicht nur im Amazonas-Dschungel oder im Kongobecken tut die Natur weh. „Die Gesundheit der europäischen Natur ist gefährdet“, warnt die Europäische Umweltagentur (EEA) in ihrer aktuellen Einschätzung. Viele Tier- und Pflanzenarten, Lebensräume und Ökosysteme – „alle lebenswichtig für unser Wohlergehen“ – sind durch Zersiedelung, nicht nachhaltige Landwirtschaft und Entwaldung oder Umweltverschmutzung bedroht. Infolgedessen nimmt die Biodiversität in Europa weiterhin mit alarmierender Geschwindigkeit ab. „Weitere Anstrengungen sind erforderlich, um aktuelle Trends umzukehren und eine widerstandsfähige und gesunde Natur zu gewährleisten“, warnen EU-Umweltprüfer.
Auch in Deutschland ist der Zustand der Natur nicht gut. Ob in den Roten Listen, dem Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Biodiversitätsstrategie oder der Bilanz zur Umsetzung der EU-Naturschutzrichtlinie: Nahezu alle wissenschaftlichen Analysen zum Zustand der Natur in Deutschland zeichnen mit nur wenigen ein düsteres Bild . Lichtblick. In den letzten Jahren gab es immer wieder einen Aufwärtstrend, bei dem einzelnen Arten mit großem Aufwand geholfen wurde. So könnten sich beispielsweise zuvor gefährdete Vogelarten wie Weißkopfseeadler, Schwarzstörche und Kraniche erholen. Biodiversität und Lebensräume in der Region stehen hingegen weiterhin unter großem Druck.
Laut den Schulnoten hätte Deutschland im Fach Umweltschutz eine Fünf
Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr Bilanz gezogen mit der Umsetzung ihrer Strategie für mehr Biodiversität, die sie 2007 beschlossen hat. In der thematischen Altersanalyse misst sie den Zustand von Gewässern und Wäldern und das Ausmaß der Landnutzung, aber auch der Grad der Landschaftszerschneidung durch Stromleitungen und andere Infrastruktur oder der Anteil des ökologischen Landbaus und das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die biologische Vielfalt. Generell wird der Naturzustand anhand von 18 Indikatoren bewertet. Da nicht für alle Bereiche genügend aktuelle Daten vorliegen, verhängte die Regierung nur 13 von ihnen eine Art Zensur: Eine Bewertung über eins fehlte, weil keines der gesetzten Ziele erreicht wurde. Für die Indikatoren zum Grad der Landschaftszerschneidung und zu einer nachhaltigeren Waldbewirtschaftung wurden gute bis mäßig zufriedenstellende Werte ermittelt. Bei allen anderen elf Indikatoren attestiert die Bundesregierung unzureichende oder gar unzureichende Fortschritte, da sie noch weit oder sogar sehr weit vom Zielwert entfernt sind. Laut den Schulnoten hätte Deutschland im Fach Umweltschutz eine Fünf.
Auch der Zustand der meisten Ökosysteme ist problematisch, weniger als zehn Prozent der Flüsse, Seen und Küstengewässer sind in einem guten ökologischen Zustand. Das ist zumindest eine kleine Verbesserung gegenüber der letzten Bilanz aus dem Jahr 2015, macht aber die Erfüllung der Verpflichtungen aus der europäischen Wasserrahmenrichtlinie, wonach sich alle Gewässer in den nächsten fünf Jahren in einem guten ökologischen Zustand befinden müssen, unrealistisch. Auch hier ist das Hauptproblem die Landwirtschaft: Jedes fünfte Grundwasser in Deutschland enthält zu viel Nitrat. „Besonders günstig ist der Zustand der Grünlandlebensräume, der Meeres- und Küstenlebensräume, der Binnengewässer, aber auch der Meere und Feuchtgebiete“, heißt es in der Einschätzung der Bundesregierung zur Situation der Lebensräume in Deutschland. “Nur die Felsen und Geröllhänge sind überwiegend positiv.”
Als besonders wichtigen Indikator für den Zustand der Natur im Allgemeinen hat die Bundesregierung einen „Schlüsselindikator für Artenvielfalt und Landschaftsqualität“ definiert, der anhand der Bestandsentwicklung von mehr als 50 Vogelarten in allen Lebensräumen ermittelt wird . . Vögel sind ein ideales Barometer für den Zustand der Natur insgesamt, weil sie auf intakte Lebensräume angewiesen sind und gleichzeitig sehr schnell auf Veränderungen reagieren können. Etabliert sich ein Vogel in einem Lebensraum oder vermehrt sich dort, ist das ein Gütesiegel für seinen ökologischen Allgemeinzustand. Denn dann tut es auch Insekten, Pflanzen, Gewässern oder Wäldern gut. Verlässt eine Art ihr angestammtes Revier, bedeutet das Abstimmung mit den Flügeln: Der Vogel gibt diesem Lebensraum eine Anklage. Dies geschieht offenbar flächendeckend, denn auch dieser Indikator findet sich im aktuellen Bericht zur Biodiversitätsstrategie in der Kategorie „weit vom Zielwert entfernt“. Eine Besserung sei in den kommenden Jahren “ohne erhebliche zusätzliche Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen in möglichst vielen wichtigen Politikfeldern” nicht in Sicht.
Auch die neu erschienene Fassung der Roten Liste der Vogelzucht unterstreicht die ökologische Notlage in Deutschland. Mehr als die Hälfte aller rund 260 Brutvogelarten sind aufgrund massiver Bestandsverluste noch häufiger Arten gefährdet oder auf einer sogenannten Frühwarnliste. Heute gibt es in Deutschland etwa 14 Millionen Vögel weniger als Anfang der 1990er Jahre.
Großflächiger Naturschutz hilft
Einige Arten haben sich bereits verabschiedet. Seit Beginn der systematischen Erfassung vor mehr als 200 Jahren gelten in Deutschland 14 Vogelarten als ausgestorben. Die Liste könnte an einem Stück bald länger werden. Sechs weitere Arten brüten hierzulande nicht so lange, dass sie in den nächsten zwei Jahren für ausgestorben erklärt werden, sofern nicht noch ein kleines Wunder geschieht. „In Deutschland droht das Aussterben von Brutvogelarten in einem noch nie dagewesenen Ausmaß“, warnen die Verfasser der Roten Liste.
Andere Gruppen sind nicht besser. Besonders kritisch ist die Situation laut Rote-Listen-Zentrum für Libellen, Amphibien und Reptilien. „Ähnlich kritisch ist die Situation für Käfer, Tagfalter und einige Pflanzengruppen, die jeweils fast 50 Prozent oder mehr Arten mit schlechtem Erhaltungszustand umfassen“, fasst das vom Bundesamt für Naturschutz geförderte Zentrum zusammen. Unter den Säugetieren gibt es noch die meisten Arten mit günstigen Erhaltungsbedingungen.
Dass sich die Natur auch in einem besiedelten und stark genutzten Land wie Deutschland durchsetzen kann, zeigen vor allem große Schutzgebiete wie das Wattenmeer. Mit fast 8.000 Quadratkilometern Nationalparkfläche an den Küsten Hamburgs, Schleswig-Holsteins und Niedersachsens ist er das größte zusammenhängende Naturschutzgebiet. Hans-Ulrich Rösner, Leiter des WWF Wattenmeerbüros, sagt: „Wir haben in den letzten Jahrzehnten keine Artenvielfalt im Wattenmeer verloren.“ Intensive Fischerei, die geplante Ölförderung und vor allem der durch den Klimawandel verursachte Anstieg des Meeresspiegels machen die Küstenzone, die auch von der UNESCO als Weltnaturerbe anerkannt ist, nicht zu einer unbekümmerten Region. „Aber hier zeigt sich, dass Naturschutz erfolgreich sein kann, wenn ihm genügend Raum gegeben wird“, sagt Rösner. Wenn eine Art an einem Ort unter Druck gerät, besteht immer die Chance, dass sie woanders bleibt und sich von dort erholt.