
Demokratie vor dem Ende?
Seltsam niedrige Wahlbeteiligung in Tunesien
17.12.2022, 20:45 Uhr
Tunesien ist einst die demokratische Hoffnung in Nordafrika – doch die Zeichen stehen auf Autokratie. Fast niemand will an den Wahlen zu einem deutlich geschwächten Parlament teilnehmen. Boykottaufrufe machen die Abstimmung zur Farce. Die Wahlbeteiligung liegt unter 10 Prozent.
Die Wahlbeteiligung bei der Abstimmung über ein neues und deutlich geschwächtes Parlament in Tunesien war gering. Nach Angaben der Wahlkommission gingen vor Wahlschluss fast neun Prozent der mehr als 9,2 Millionen Wahlberechtigten zur Wahl – und damit deutlich weniger als bei früheren Parlamentswahlen im Land. “Die Menschen vertrauen dem politischen Prozess und den politischen Vertretern nicht mehr”, sagt Malte Gaier, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunis. “Sie haben auch von dieser Wahl keine Besserung erwartet.”
Tunesiens Staatschef Kais Saied hatte Ende März das alte Parlament aufgelöst, um seine politischen Gegner zu schwächen und seine eigene Macht auszubauen. Seit der Einführung einer umstrittenen neuen Verfassung im Sommer kann das Staatsoberhaupt Regierung und Richter ohne Zustimmung des Parlaments ernennen und entlassen.
Das neue Vertretungsorgan wird nur wenige Befugnisse haben. Die Opposition rief zum Wahlboykott auf. Sie wirft dem Präsidenten vor, die Demokratie zu untergraben. Auch der einflussreiche tunesische Gewerkschaftsbund UGTT, der viele Mitglieder hat und Saied nahesteht, bezeichnete die Parlamentswahlen als “nicht sinnvoll”.
Lebensmittel sind teuer und manchmal knapp
Für viele Tunesier war Saied lange Zeit ein Hoffnungsträger, doch jetzt sinken seine Popularitätswerte rapide. Viele Menschen kämpfen jeden Tag darum, über die Runden zu kommen. Lebensmittel wurden teuer und manchmal knapp. In den Geschäften fordern Mütter, mehr als eine Packung Milch pro Person kaufen zu dürfen. Auch Zucker und Butter sind heutzutage rar. Immer mehr junge Tunesier machen sich auf den Weg nach Europa, um dort Arbeit und Perspektiven zu finden.
Bisher hat die Politik keine Lösungen für die wirtschaftlichen Turbulenzen und die hohe Arbeitslosigkeit im Land gefunden. Die Führung in Tunis verhandelt derzeit mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über einen Milliardenkredit, um eine Staatspleite abzuwenden. “Der Kredit wird das Land vorerst am Laufen halten, aber aus der Schuldenspirale nicht herauskommen”, sagt Gaier. “Es gibt keinen Politiker in Tunesien, der wirklich den Kurs ändern kann.” Daran werden auch die Parlamentswahlen nichts ändern.
Das neue Parlament wird aus 161 Abgeordneten bestehen. In einigen Wahlkreisen gibt es allerdings keine Kandidaten, sodass das Parlament bis auf Weiteres nicht voll besetzt sein wird. Erste Ergebnisse erwartet die Wahlkommission ab Montag.
Das Wahlrecht hat sich kürzlich geändert
Auch der frühere Juraprofessor Saied änderte vor der Abstimmung das Wahlgesetz. Die Bürger können nun nur noch einen Abgeordneten pro Wahlkreis wählen. Bei früheren Wahlen haben sich Parteien oder Parteienblöcke mit vielen Kandidaten, darunter auch Frauen, präsentiert. Diese Verpflichtung entfällt. Laut Human Rights Watch waren im abgesetzten Parlament aufgrund des Quotensystems 31 Prozent der Abgeordneten Frauen. „Das tunesische Parlament war einst das Vorbild für die Gleichstellung der Geschlechter in der Region. Mit diesen neuen Gesetzesänderungen könnte das bald Geschichte sein“, schreibt die Organisation in einem Bericht.
Die Parlamentswahlen finden am zwölften Jahrestag der Selbstverbrennung des Tunesiers Mohammed Bouazizi statt. Der Tod des Winzers Ende 2010 löste in mehreren arabischen Ländern Massendemonstrationen und politische Unruhen aus. Tunesien war das einzige Land, das den Übergang zur Demokratie geschafft hat. Politische Machtkämpfe und grassierende Korruption verhindern jedoch nachhaltige Veränderungen.